Fachschaft evangelische Theologie
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13. Dezember

Adventskalender_13 Von Tod und Türen – Eine Winternachtsgeschichte

von Franziska Küster

 

 

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,


durch Zufall; denn es könnte sein:


ein Rufen deines oder meines Munds -


und sie bricht ein


ganz ohne Lärm und Laut.

Rilke 1899

 

Einst stand eine Hütte inmitten eines Waldes, auf dessen Dach sich mit der Winterzeit eine dichte, kalte Schneedecke gesammelt hatte. Der Hüttenbewohner wurde mit jedem weiteren Zentimeter Schnee über ihn immer weiter ausgeschlossen von jeglicher Außenwelt und von jeglichem Leben, bis er schließlich ganz allein war. Es war eine raue Adventsnacht, als jener Hüttenbewohner, sein Name war Herr Greiskraut, dem Tod begegnete. Der Einsamkeit überdrüssig nahm der Alte zunächst Vorlieb mit dem fremden Gast. Nach einer Weile des Miteinanders jedoch stellte Herr Greiskraut fest, dass ihm der Tod nicht besonders gefiel. Im Vergleich zu seinen früheren Zeitgenossen war er wenig empfindsam, zudem ignorant, mehr schaden- als lebensfroh und überaus besitzeinnehmend. Eine unerquickliche Kombination kläglicher Charakterzüge also.

Die Zeit im Angesicht des Todes verstrich – bis Herr Greiskraut an den äußersten Punkt seiner Verzweiflung geraten war. An dieser Stelle räumte er vor dem Tod ein, wie sehr er seine Gesellschaft verachtete. Der betagte Mann vermisste die beseelten, unbeschwerten Zeiten mit einem Menschen, was er in einer Wortwahl ausdrückte, die den Tod sichtlich hätte kränken sollen. Stattdessen spürte der Tod, angewidert von dem griesgrämigen Alten, wie seine Lebensgeister erwachten. Welch eine Lust, die in seinem Inneren emporstieg, ein zeitweiliges Spiel mit diesem Mann zu treiben. Weil der Tod davon überzeugt war, dass nicht eine einzige Menschenseele auch nur einen Funken Zuneigung für Herrn Greiskraut übrighaben würde, schlug er dem Mann – seine spottsüchtige Lust verhüllend – folgendes vor: „Findest du nur einen einzigen Menschen auf der Erde, in dessen Herz du geschlossen bist, so darfst du bei dieser Person leben bleiben. Oder sei des Todes. Ich lasse dir die Wahl.“ Das Angebot, das ihm die Tür zum Leben eröffnete, nahm Herr Greiskraut überschwänglich an.

Kurz darauf folgte er dem Tod einen Tunnel entlang, vorbei an tausend und abertausenden Herzenstüren. Hier sollte Herr Greiskraut sein Glück versuchen und schauen, ob es denn eine Tür zu einem Herzen gab, die sich ihm geöffnet hatte. Die Vorstellung vom Genuss an der menschlichen Verzweiflung, den sich der Tod beim Schmieden seines Planes in seinem Kopf ausgemalt hatte, wurde übertroffen von der wahrhaftigen Verzweiflung Herrn Greiskrauts, die entlang des Tunnels in seinen unbändigen Anläufen, Türen zu öffnen nur noch gedeihte, und mit der Zeit bis ins Unendliche wucherte. Denn so sehr sich der Mann auch bemühte, die Türen, massiv oder gläsern, geschliffen oder marode, sie ließen sich weder behutsam öffnen noch eintreten, ihre Schlösser nicht knacken, ihre Riegel nicht zurückschieben. Weder Kraft noch Strategie halfen ihm. Kein Mensch hatte etwas übrig für den Mann, niemand war ihm mit offenem Herzen begegnet. Der Tod hatte sich nicht getäuscht in seiner Vermutung, vor sich ein echtes Exemplar menschlichen Scheusals zu haben. Er amüsierte sich köstlich über den immerzu scheiternden Umherirrenden vor den zahllosen verschlossenen Türen.

Als dieses Schauspiel den Tod igendwann zu langweilen begann, erklärte er Herrn Greiskraut endlich: „Angenommen eine Tür in diesem Gang ist immer dann entstanden, sobald dir ein Mensch zu Lebzeiten das Schauenlassen in sein Herz gewährt hat. Als ermöglichter Zugang zu seinem Herzen würde diese Tür also nur deshalb existieren, weil ein Mensch dir an einem Punkt seines Lebens sein Vertrauen entgegengebracht hatte. Folglich wären diese Türen nun allesamt verschlossen, weil du das Vertrauen von jedem einzelnen missbraucht oder verachtet hast. Oder aber, weil sie dich angesehen und ihres Herzens unwürdig erachtet haben. Oder weil du ihre Herzenstüren einst von außen verriegelt und ihre Schlüssel in die tiefste Versenkung des Vergessens verworfen hast. Wie auch immer. Dreh und wende es wie du willst. Du bist ein Ekel, kein Mensch schließt dich in sein Herz und will mit dir leben.“ Der Tod, inzwischen vor Lachen gekrümmt, prustete: „Welch närrische Verblendung zu glauben du seist geliebt.“ Mit diesen Worten verließ der Tod den Mann, auf der Suche nach einer neuen zeitweiligen Vergnügung.

Jede Bedeutung, die der Mann sich jemals beigemessen hatte, war nicht mehr. Ebenso wenig hatte es einen Sinn oder einen Wert, wo er war und was er wirkte. Er war eins mit der Lichtlosigkeit, die weder Raum, Identität oder Zeit kannte. Sie kannte weder Türen noch Schritte, weder Schall noch Rauch, weder Furcht noch Hoffnung, weder Unwissenheit noch Erkenntnis. Eins sein mit der Lichtlosigkeit, mit der Stille, war das die Ewigkeit?

Sollte sie es gewesen sein, so war es ein schwacher Lichtstrahl, der ihr ein jähes Ende bescherte. Eines ungeahnten Momentes streifte er die aufkommende Ferne des Tunnelgangs und mit ihm wurde sich der Mensch seiner Existenz bewusst. Der Lichtschein begann die Umrisse der Umgebung zu zeichnen, die zuvor noch ein großes Alles, Ganzes und Nichts gewesen war. Er atmete tief aus, erkannte die Umrisse seines alten Körpers wieder, setzte erste Schritte, zunächst zögernd, dann schreitend, mit dem Funken einer Hoffnung in sich, in Richtung der Lichtquelle. Die hellen Strahlen traten aus – eins, zwei, drei, vier – fünf Schlüssellöchern hervor, die in einer unscheinbaren Holztür waren.

Fünf fehlende Schlüssel – der alte Mann war zu geschwächt, um überhaupt ernsthaft erwägen zu können sich auf die Suche nach ihnen zu machen – unmöglich. Der Hoffnungsfunken in ihm war bereits erloschen. „Hoffnung? Wonach überhaupt?“ Sein Weg zurück in die stille Lichtlosigkeit schien besiegelt. Alles in ihm sank müde in sich zusammen. Unfähig das Gleichgewicht zu halten stützte er sich an die Tür. Doch diese schwang augenblicklich, seines Gewichtes nachgebend, nach innen auf und Herr Greiskraut fiel rückwärts durch ihren Rahmen. Ohnmacht ergriff ihn.

 

War das die Liebe, die ihn gerade streifte,
wie eines seidenen Gewandes Atem
im Dunkel, wie ein windvertragner Duft,
wie Harmonien aus der blauen Nacht,
woher, er wusste es nicht, doch stockte sein Blut
und horchte in die Geheimnisse der Dinge...
und all sein Wesen flutete zögernd aus,
er fühlte sich wie ein Strom die Welt durchrinnen
und ahnte doch noch ein Mehr-als-diese-Welt,
wie hinter feiner Schleier Wehr noch wartend,
ein Himmelreich voll Blüten, Früchten, Sonnen
und lächelnd winkte, die ihn so sehr gerührt.

nach Christian Morgenstern

 

Er öffnete seine Augen und blickte ihr entgegen. Die Welt nahm ihn wahr und wusste um ihn, um seinen Durst nach Licht und Leben, der tief in seiner Existenz wurzelte. Sie fühlte sein unbedingtes Bedürfnis nach Annahme, Wärme, seiner Sehnsucht nach Wert und Würde, und trotzdem hatte sie ihn eintreten lassen. Entrinnen wollte er der Eintönigkeit, umfangen ließ er sich von der Welt wie ein Kind von den Armen einer Mutter und eines Vaters. Von der Schwelle aus ließ sie ihn sehen – zunächst noch verschwommen – Farbenspiele, unbekannte Melodien und Duftkompositionen, deren einzelne Elemente er noch nicht zuordnen konnte. Aus dem Inneren des Mannes keimten Mut, Neugierde und Stärke auf, befähigten ihn zum Aufstehen und lockten ihn die Welt zu erkunden. Von ferne noch hallten die Worte des Todes in ihm nach: „Findest du nur einen einzigen Menschen auf der Erde, in dessen Herz du geschlossen bist, so darfst du bei dieser Person leben bleiben.“ Herr Greiskraut schritt voran und erkannte zunehmend klar, was er aus der Ferne nur unscharf vernommen hatte. Erst waren es nur Blumen und Pflanzen, die er wahrnahm, dann lernte er ihre Umrisse, ihre hauchfeinen Eigenheiten und die Zusammensetzung des Duftes kennen, den sie ausströmten. Zuletzt genoss er ihre Schönheit. Er hatte sich entschlossen zu bleiben. Erachtete sich Herr Greiskraut anfangs lediglich wie ein Gast in einem noch fremden Kosmos, so erlaubte ihm das Wohlwollen seines Umfeldes, dass er sich dort bald ganz heimisch fühlen durfte. Die Vorsicht in seinem Gemüt wich einem tiefen Vertrauen. Dem Vertrauen in sich selbst, in seine Umgebung und in die Bewohner, die sie gemeinsam gestalteten. Herr Greiskraut liebte es von den vielen Pflanzen zu probieren, die die Welt ihm so freigiebig schenkte. Zwar war nicht jede nach seinem Geschmack und nicht jede war leicht zugänglich. Aber das war ja nicht tragisch, solange ihm die besten Seiten der Herzenswelt nicht verwehrt blieben und er sie in vollen Zügen genießen konnte. Sie birgte aber wirklich auch Gegenden in sich, die lästig zu erreichen waren. Dorthin zu gelangen, um zu ernten, kostete einfach zu viel Mühe, Mut und Entbehrung. Und weil das Liebliche so nah und überreich vor ihm lag, verlor er schnell das Interesse an den abgelegenen, strapazierenden oder faden Winkeln der Welt. Eine Schneise zog sich bald schon durch die fruchtbaren Gärten, besonders dort, wo die wohlschmeckendsten seiner Lieblingsfrüchte wuchsen. Ihnen galt alle seine Aufmerksamkeit. War jedoch eine Region völlig abgeerntet, so ließ er sie zügig hinter sich und zog fröhlich weiter. Was ihm nicht gefiel oder was ihn langweilte, das ignorierte er schließlich gänzlich. Die Bewohner hatten den Alten schon mehrfach darauf hingewiesen, dass er mit seinem Verhalten den ein oder anderen grauen Punkt auf der Karte erzeugt hatte. „Ernten ohne Pflege und Bedacht“, „Kolonialist“ „Kurzsichtigkeit und Scheuklappenblick“ und weitere Vorwürfe fielen. Gerne war er den lästigen Konfrontationen aus dem Weg gegangen: „Das wächst doch wieder nach“, „ich weiß, was ich tue“, „die Zeit heilt alle Wunden.“ Wenn er aber die Lust aufbrachte ließ sich Herr Greiskraut auf der Suche nach zeitweiliger Vergnügung gerne von den Bewohnern inspirieren und folgte ihnen eines Tages erwartungsvoll zum Herzstück der Welt. Es war eine Tafel, die alle zu jeder Zeit bemalen konnten, denen die Welt ihre Tür geöffnet hatte. Auf der Leinwand war die ganze Welt wie eine Karte abgebildet. Dann beobachtete Herr Greiskraut wie ein Bewohner einen kleinen Laubbaum auf eine freie Stelle der Leinwand krakelte. Die Skizze vom Stamm mit den weit verästelten Strichen war zunächst eine unwirkliche, fremdartige Zeichnung auf dem lebendigen Bild gewesen, lediglich ein entsprungenes Abbild aus der Fantasie seines Erschaffers. DSC_0226Doch schon bald spross aus der leeren Stelle in der Welt, die auf der Karte abgebildet war, ein mehrarmiger Laubbaum mit unzählbaren Blättern und Blüten aus dem Erdboden und nahm immer weiter Gestalt an. Schließlich schmolz er mit der Umgebung zusammen als wäre er schon immer ein untrennbarer Bestandteil der Umgebung gewesen. Auch das Bild auf der Tafel wuchs lebendig in seinen Wechselwirkungen. Es war eine bunte, detailreiche und sich fortwährend wandelnde Masse, die sich auf der Tafel abzeichnete, die bestand und entstand in einem Zeitraum gemeinsamer Federführung. Herr Greiskraut war von diesem Anblick fasziniert und wurde zum Träumen angeregt. Welch verkanntes Potenzial dieser Zauber doch birgte. Er war von den beschränkten Bewohnern bisher nicht effizient genug genutzt, ja beinahe stiefmütterlich behandelt worden. Was sich alles ließe erleichtern und produktiver gestalten können. Er sah die Welt, die ihm gefallen würde, die veredelt und vollkommen war, schon direkt vor seinen Augen. Herr Greiskraut würde endlich Ordnung schaffen, Infrastruktur geben, die zerborstenen Gebirgsklüfte einebnen, die Bäume, an denen fade Früchte wuchsen, ein für alle Mal ausradieren und stattdessen Platz schaffen für Pflanzen mit ertragreichem und wohlschmeckendem Mehrwert. Nun, da Herr Greiskraut in der Kenntnis von der Leinwand war, wertete er die Kritik der Bewohner um sein Verhalten und die entstandenen ergrauten Flächen endgültig als freche Provokation ab. Wo lag das Problem? Man nehme etwas Farbe, schmiere ein Bild von einer Pflanze aus der eigenen Fantasie auf die entleerte Stelle auf der Leinwand, und schaue zu, wie ein neuer, prächtiger Baum aus dem Boden schießt. Mit großen, stolzen Schritten trat er an die Tafel. Alle grauen Stellen übermalte er unvermittelt mit Darstellungen seines Lieblingsbaumes, der die leckersten und am einfachsten zu ernteten Früchte bot. Er nutzte die günstige Gelegenheit an der Tafel, um die ein oder andere Schönheitskorrektur an der Welt durchzuführen, um den Bewohnern ein Exempel zu statuieren. Bald schon hatte er sie gänzlich nach seinem Bild gestaltet.

 

. . .

 

In der Adventszeit singen wir: „Macht die Türen auf, macht die Herzen weit, und verschließt euch nicht: es ist Weihnachtszeit.“ Wie aber mit einem Menschen umgehen, der uns mit einer offenen Herzenstür begegnet?


„Was habe ich davon?“ und „Was kostet mich das?“ sind vielleicht die ersten Reaktionen. Vielleicht sehe ich in meinem Gegenüber gerade in Tagen der Hektik nichts mehr weiter als eine Ressource, die in meinem eigenen Leben einen gewissen Mehrwert schafft. Ich wünsche mir in meinem Denken und Handeln den Glauben zu leben, dass vor mir ein einzigartiger Mensch steht, der sich fortwährend entwickelt, der Würde, Träume, Ängste, Hoffnungen und Fragen an das Leben hat. Einem Menschen die Herzenstür zu öffnen kann heißen alle schützenden Mauern abzubauen, um sein Wohlwollen zu suchen, auch wenn die Begegnung nicht leichtfällt. Im Advent feiern wir das Kommen Jesu in diese Welt, ein Zeugnis grenzenloser und grenzüberschreitenden Liebe. Wer sich dieser Liebe bewusst wird, der erfährt Ströme lebendigen Wassers, die selbst die kärgsten Wüsten zu durchkreuzen vermögen. Möge Gott uns eine Tür öffnen, seinen guten Segen zu empfangen, seinen guten Segen weiterzugeben, als Zeugen seiner Liebe.

 

Franziska Küster ist Studentin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät.

Bildnachweis: Foto: Franziska Küster